Wir hatten gehofft, dass im Rahmen der geplanten Cannabis-Entkriminalisierung und späteren Teil-Legalisierung auch die seit langem äußerst repressive Rechtslage im Bereich des Straßenverkehrs angefasst wird. Doch wie wir inzwischen erfuhren, ist das nicht der Fall. In dem Referentenentwurf, der sich derzeit in der Ressortabstimmung befindet, dürfte das Thema ungeregelt bleiben.
Verkehrsrechtler und Rechtsmediziner fordern schon seit längerem im Zusammenhang mit dem Cannabis-Konsum eine Anhebung des derzeit maßgeblichen Grenzwertes von 1,0 Nanogramm (ng) Tetrahydrocannabinol (THC) pro ml Blutserum als Nachweis für eine Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit. THC gilt als die psychoaktive Substanz des Hanfs und macht den Hauptteil der berauschenden Wirkung aus.
“Der aktuell angewandte Grenzwert von 1,0 ng THC pro ml Blutserum liegt so niedrig, dass er den Nachweis des Cannabiskonsums ermöglicht, aber nicht zwingend einen Rückschluss auf eine verkehrssicherheitsrelevante Wirkung zulässt”, hatten im August 2022 die Experten des 60. Deutschen Verkehrsgerichtstages festgestellt. In der Praxis führt der aktuelle Schwellenwert tatsächlich immer wieder dazu, dass Autofahrende, deren Cannabis-Konsum schon länger zurückliegt und die sich nicht im berauschten Zustand ans Steuer begeben, mit empfindlichen Sanktionen rechnen müssen. So ist nach § 24a Straßenverkehrsgesetz (StVG) mit mindestens 500 Euro Bußgeld, Fahrverbot, Punkten in Flensburg und – wenn es ganz übel kommt – auch mit dem Entzug der Fahrerlaubnis zu rechnen.
Verkehrsgerichtstag und Anwaltverein fordern Anhebung
Vor diesem Hintergrund hatte der Verkehrsgerichtstag nach intensiven Beratungen den Gesetzgeber aufgefordert, den derzeit angewandten Grenzwert “angemessen” heraufzusetzen. Auch der Deutsche Anwaltverein (DAV) appellierte an die Ampel, im Zuge ihres Projekts Cannabis-Legalisierung eine Regelung analog zu Alkoholfahrten zu schaffen und nur tatsächlich berauschte Fahrer zu sanktionieren. “Wissenschaftliche Studien belegen, dass erst ab einem THC-Wert von 2 – 4 ng/ml überhaupt von einer Beeinträchtigung gesprochen werden kann und zudem eine der Promillegrenze von 0,5 Promille vergleichbare Größenordnung von 4 – 16 ng/ml vorliegen müsste”, so Rechtsanwalt Andreas Krämer von der DAV-Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht.
Krämer verwies dabei auf die im Gegensatz zum flüchtigen Stoff Alkohol langsame Abbaugeschwindigkeit von THC nach dem Cannabis-Konsum: “Wer aufgrund der besonders langsamen Abbaugeschwindigkeit von THC noch Tage nach einem Konsum ohne jegliche Beeinträchtigung auf die Fahrtüchtigkeit einen Wert von 1 ng/ml aufweist, verliert unter Umständen seine Fahrerlaubnis, während die getrunkene Dose Bier vor der Fahrt sanktionslos bleibt”, so der Anwalt.
Die Cannabis-Community dürfte nun auch deshalb besonders enttäuscht sein, weil die Bundesregierung in ihren beiden Eckpunktepapieren zur geplanten Cannabis-Legalisierung vom Oktober 2022 und April 2023 noch eine Heraufsetzung der Grenzwerte in Aussicht gestellt hatte. “Eine Änderung der geltenden Grenzwerte für Cannabis im Straßenverkehr im Rahmen des Gesetzes für den kontrollierten Umgang mit Cannabis soll durch die bestehenden Fachgremien geprüft werden”, erläutert das Bundesgesundheitsministerium (BMG) auch weiterhin auf seiner Homepage.
Rechtsmediziner fordern 3,5 ng/ml
“Überprüfung durch Fachgremien”? Gemeint ist damit in erster Linie die Grenzwertkommission (GWK), die beim Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) angedockt ist. Dabei handelt es sich um eine fachübergreifende Arbeitsgruppe, die mit Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin, der Deutschen Gesellschaft für Verkehrsmedizin, der Gesellschaft für Toxikologische und Forensische Chemie (GTFCh) und der Bundesanstalt für Straßenwesen besetzt ist. Die zehn Frauen und Männer liefern seit Jahren den wissenschaftlichen Input z. B. bei Fragen der Änderung der Anlage zu § 24a StVG. 2002 hatte die GWK den Grenzwert auf 1,0 ng/ml festgelegt. Das Bundesverfassungsgericht hatte diesen 2004 bestätigt.
Allerdings haben sich die Zeiten inzwischen geändert. Eine Vielzahl von neueren Studien führte dazu, dass die GWK 2022 ihre Position ein stückweit relativierte und zu dem einhelligen Ergebnis kam, “dass es keine Möglichkeit gibt, einen Wirkungs-, Gefahren- oder Risikobezogenen THC-Blut/Serum-Konzentrations-Grenzwert mit vertretbarer wissenschaftlicher Begründung festzulegen”, wie der Vorsitzende der GFK, Prof. Stefan Tönnes erläutert. Ein von der Gesellschaft zu akzeptierender Kompromiss könne nur politisch definiert werden.
Tönnes und einige andere GWK-Mitglieder, wie z.B. GTFCh-Präsident Prof. Volker Auwärter, hatten der Ampel als Kompromiss in einem gesonderten Papier – veröffentlicht in der Fachzeitschrift Blutalkohol – empfohlen, den Grenzwert zumindest auf 3,5 ng/ml zu erhöhen. “Die in unserem Papier dargelegte Konstruktion eines Grenzwertes ist bereits als konservativ einzuschätzen und würde dafür sorgen, dass Konsumenten, die ausreichend Wartezeit zwischen letztem Konsum und Fahrtantritt verstreichen ließen, mit geringerer Wahrscheinlichkeit in die ‘§ 24a StVG-Falle’ laufen. Bei Fahrern, die wesentliche Beeinträchtigungen aufweisen, kann eine Verurteilung nach §§ 315c/316 Strafgesetzbuch weiterhin auch bei Konzentrationen unterhalb dieses Grenzwerts erfolgen, sodass ich keine negativen Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit erkennen kann”, so der Freiburger Rechtsmediziner.
Ampel bindet Grenzwertkommission nicht ein
Allerdings ist diese Anhebung innerhalb der GWK nicht unumstritten. Andere Mitglieder, wie etwa der Münchener Rechtsmediziner Prof. Matthias Graw, warnten vor einer Heraufsetzung: In einem gemeinsam mit der Verkehrsmedizinerin Prof. Gisela Skoop und dem Verkehrsmediziner Prof. Frank Mußhoff ebenfalls in der Zeitschrift Blutalkohol veröffentlichten Beitrag plädieren die Autoren dafür, eine Änderung erst auf einer wissenschaftlich ausreichend fundierten Basis vorzunehmen, die nach bisher noch nicht existiere.
Indes: Dass die im Vergleich zu 2002 nunmehr deutlich liberalere Position der GWK oder die eindeutigen Empfehlungen des Verkehrsgerichtstages sowie der Anwaltschaft in der Bundesregierung durchdringen, scheint eher ausgeschlossen. Denn obwohl die Ampel bei diesem Thema ausschließlich auf die Expertise der Experten setzen will, hat es unseres Wissens nach bislang noch keine Einbeziehung der GWK in den Gesetzgebungsprozess gegeben: Sowohl GWK-Präsident Tönnes als auch Rechtsmediziner Auwärter bestätigten dies.
Erstaunen mag das nicht: In der Bundesregierung will man schlichtweg nicht an den bestehenden Null-Toleranz-Richtwerten für Cannabis-Konsumenten rütteln. Das für das Cannabisabgabegesetz (“Säule-1”) federführende BMG fühlt sich für das Thema erst gar nicht zuständig: Zu Fragen zur Verkehrssicherheit solle man sich an das BMDV wenden, heißt es.
Verkehrsministerium: “Kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf”
Und aus Wissings Haus kommt eine klare Ansage: “Das BMDV sieht derzeit keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf für eine Änderung des § 24a Abs. 2 StVG und bereitet auch keine diesbezügliche Gesetzesinitiative vor.” Das Verkehrsressort scheint bei dem Thema auf Zeit zu spielen: Denn anders als in den Eckpunkten der Bundesregierung formuliert, soll es bei der Frage der Anhebung plötzlich nicht mehr allein auf die Expertise der Fachleute aus der GWK ankommen, sondern auch auf die Justiz:
“Es wird zu beobachten sein, wie die Rechtsprechung, die sich bei Zugrundelegung der Grenzwerte im Rahmen des § 24a Abs. 2 StVG bislang an den Empfehlungen der Grenzwertkommission orientiert hat, auf die jüngst veröffentlichten, unterschiedlichen wissenschaftlichen Positionen der Grenzwertkommission und Teilen von ihr (…) reagiert.”
Indes: Auf eine Rechtsprechung zu warten, die sich mit den neueren Positionen der GWK von 2022 befasst, dürfte Jahre dauern.
Ampel-Fraktionen appellieren an Wissing
Nicht akzeptieren werden Volker Wissings Hinhaltetaktik möglicherweise die Fraktionen der Ampel. Der Verkehrsminister solle die Vorschläge des Verkehrsgerichtstages und anderer Fachgremien schnellstmöglich umsetzen, fordert etwa Gesundheitspolitikerin Kirsten Kappert-Gonther, die in der grünen Bundestagsfraktion für das Thema Cannabis zuständig ist. “Wer berauscht ist, soll nicht Auto fahren, aber wer nicht berauscht fährt, soll auch nicht bestraft werden”, sagt die Abgeordnete.
Und selbst aus der eigenen Fraktion bekommt der FDP-Verkehrsminister Gegenwind: “Der THC-Grenzwert im Straßenverkehr muss im Zuge der Legalisierung von Cannabis erhöht werden”, so die sucht- und drogenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Liberalen, Kristine Lütke. Lütke geht weiter davon aus, “dass Verkehrsminister Volker Wissing die THC-Grenzwerte zeitnah überprüfen lässt und sinnvoll nach oben anpasst”.
SPD will notfalls “im parlamentarischen Verfahren darüber reden”
Dass die Anhebung im aktuellen Referentenentwurf zur Säule-1 des Vorhabens umgesetzt werden muss, erwartet die SPD-Abgeordnete Carmen Wegge: Die Rechtspolitikerin findet es “schade, dass Verkehrsminister Wissing in dieser Sache so zögerlich und zurückhaltend ist, denn eine Anpassung der Grenzwerte hätte er schon längst unabhängig von Säule 1 regeln können”.
Auto- und Motorradfahrern, die in ihrem Leben hin und wieder Cannabis konsumieren, sich aber auch nicht vollgedröhnt ans Steuer setzen, macht die Sozialdemokratin nun trotz der ablehnenden Haltung des Verkehrsministeriums ein bisschen Hoffnung: “Wir erwarten in der ersten Säule des Cannabisabgabegesetzes eine konkrete Regelung zu den Grenzwerten im Straßenverkehr. Sollte eine solche nicht enthalten sein, dann werden wir im parlamentarischen Verfahren darüber reden müssen.”